PI «Selbstbestimmung am Lebensende auch in Pflegeeinrichtungen»

Votum von Marcel Wittwer, Fraktionssprecher EDU, an der Grossratssitzung vom 20.03.2024

Sehr geehrter Ratspräsident, geschätzter Regierungsrat, Kolleginnen, Kollegen

Für die vorliegende Frage ist es unerheblich, was jemand von Sterbehilfe hält. Es geht darum, in einer ethisch sensiblen Angelegenheit einen Zwang für alle zu stipulieren. Das geht entschieden zu weit. Die eigene Weltanschauung und Wertbestände allgemeinverbindlich zu erklären, ist die Antithese von Freiheit. Freiheit bedeutet immer und zwingend, eine gegenläufige Position einnehmen zu dürfen, sich anders zu entscheiden, auch wenn der Trend in die umgekehrte Richtung zeigt, sonst ist sie keine Freiheit. So muss eine Institution immer frei wählen dürfen, ob sie Sterbehilfe zulassen will oder nicht. Sowieso ist es unsinnig, davon auszugehen, dass ein Trend per se positiv ist. Ein Trend ist zunächst neutral, ein beobachtetes Faktum. Niemand würde behaupten, steigende Kriminalität sei etwas Positives. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Trend gesteigerten Autonomiebedürfnisses sucht man vergebens, er wird a priori als positiv beurteilt. Der Drang nach Autonomie geht Hand in Hand mit dem um sich greifenden Nihilismus, der propagierten Sinnlosigkeit des Lebens inmitten der Fülle des Lebens mit all ihren Schönheiten und Schwierigkeiten. So ist es doch eher sonderbar, wenn selbstbestimmtes Sterben als erstrebenswert angepriesen wird, man ist sich nie ganz sicher, ob jetzt der Selbstbestimmung oder eher dem Tod gehuldigt wird.

Rund 50% Pflegeinstitutionen entscheiden sich dagegen, Sterbehilfe in ihren Räumlichkeiten zuzulassen. Aber auch wenn es nur eine Institution wäre, müsste sich jeder freiheitlich gesinnte Mensch zum Widerstand gegen ein solches Vorhaben rüsten.

Da die Sache der Sterbehilfe von der PI berührt wird, möchte ich es nicht unterlassen, etwas zur Sterbehilfe zu sagen. Es ist offensichtlich und von niemandem bestritten, dass grosses Leid Fragen aufwirft, auch existenzielle Fragen. Niemand wünscht sich ein leidvolles Ende und wir haben Mitgefühl mit leidgeplagten Menschen. Es ist aber auch wahr, dass Leiden zum Leben dazu gehört und die Ausklammerung dieses Elements aus unserem Leben schädliche Auswirkungen hat. Wir erfassen die menschliche Existenz nur unzureichend und verzerrt, wenn wir nur das im Blick haben, was uns nirgends drückt. Leid wird auch völlig subjektiv erlebt, ist Leid für den einen kaum auszuhalten, ist eine vergleichbare Menge Leid für einen anderen kaum der Rede wert. Kommen wir zur Frage der Würde. Entscheidend ist, was würdiger ist. Ist es würdiger, schwer krank ein kümmerliches Leben zu führen oder sich selbst aus dem Leben zu nehmen? In meiner beruflichen Tätigkeit musste ich leider schon mehr als einmal erleben, wie Menschen selbstbestimmt aus dem Leben ausgeschieden sind. Ich kannte diese Menschen nicht, sie waren mir nicht nah. Das akribische Tötungsprotokoll zu lesen, die Schläuche, mit denen sie sich mutmasslich das Tötungsmittel verabreicht haben, im Abfall zu sehen, empfand und empfinde ich weder als würdig noch erhaben, eher war und bin ich sprach- und fassungslos. Ich versichere Ihnen, werte Ratsmitglieder, es ist nichts Würdiges daran. Jemand, der mit Krankheit umzugehen versucht, es aushält, dem Leid zwischendurch schöne Momente abtrotzt, denjenigen assoziiere ich mit Widerstandskraft, mit Lebenskraft, mit Lebenswillen, mit Unbeugsamkeit, mit Stärke trotz Schwachheit und nicht zuletzt haben diese Menschen unser vollstes Mitgefühl verdient. Optimalerweise werden Betroffene im Leidprozess von Mitmenschen begleitet. Stichwort Palliative Care. Wie wird dieses Empathische und Gute kontrastiert durch den jüngsten Entscheid des BGers, bereits Gesunden Zugang zur Sterbehilfe zu gewähren. Wer einmal den Weg des moralischen Niedergangs beschreitet, hat es schwer, wieder davon loszukommen. Nihilismus in Reinkultur.

Durch ein solches Gesetzesvorhaben wie vorliegend würden unbeteiligte Dritte wie Pfleger, Polizisten und Hinterbliebene in Mitleidenschaft gezogen. Unsere Handlungen wirken sich nicht im luftleeren Raum aus. Nur wer das Ego zum Mass aller Dinge erhebt, ignoriert das mannigfaltige neue Leid, das erzeugt wird, wo man doch eigentlich Leid beenden wollte.

Ein Wort noch zum Recht auf Selbsttötung, was für sich genommen schon eine ungeheure Begriffsentleerung des Wortes «Recht» ist. Wie die Sterbehilfe gesetzlich eingefasst wird, ist als demokratisch zu ermittelndem Entscheid, in dem alle Wertorientierungen miteinander ringen, Sache des Gesetzgebers und des Souveräns und nicht eines wenig köpfigen richterlichen Gremiums. Ich erkenne beim besten Willen keine Beschneidung des vermeintlichen Rechts auf selbstgewählten Tod, wenn man zur Durchführung des assistierten Suizids den Ort wechseln muss. Zudem kann ein potenzieller Bewohner schon bei Eintritt in eine Institution darauf achten, dass man den Ort nicht wechseln muss, wenn es so weit ist. Die Interpretation der Rechtsbeschneidung ist mehr als abenteuerlich. Wenn das nicht zumutbar, ist nichts mehr im Leben zumutbar.

Die EDU-Fraktion ist einstimmig gegen Unterstützung der PI. Weiter sei gesagt, dass für die EDU-Fraktion mit einem solchen Gesetz eine rote Linie überschritten würde, dem wir uns mit allen demokratischen Mitteln entgegenstellen werden.

Es gilt das gesprochene Wort.


«Kein Zwang bei Sterbehilfe»

Die Thurgauer Zeitung berichtet über die Debatte – mit Erwähnung des Votums von Marcel Witter, EDU

  • Ja
    Parole
    Eidgenössische Vorlage
    Ausbauschritt 2023 für die Nationalstrassen
  • Ja
    Parole
    Eidgenössische Vorlage
    Mietrecht: Kündigung wegen Eigenbedarfs
  • Ja
    Parole
    Eidgenössische Vorlage
    Mietrecht: Untermiete
  • Ja
    Parole
    Eidgenössische Vorlage
    KVG – Einheitliche Finanzierung der Leistungen

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